Universität Bonn

Katholisch-Theologische Fakultät

22. November 2024

Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen am 25.11.2024 Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen am 25.11.2024

Interview der KTF-Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung mit der Theologin Andrea Lehner-Hartmann

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Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen am 25.11.2024

Interview der KTF-Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung mit der Theologin Andrea Lehner-Hartmann zu Femiziden und (sexueller) Gewalt an Frauen

Der von der UN ins Leben gerufene Internationale Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird seit über drei Jahrzehnten am 25. November weltweit begangen. Dieser Tag ist den Frauen und Mädchen gewidmet, deren Leben von Gewalt geprägt ist, und ruft zugleich die Weltgemeinschaft dazu auf, entschieden gegen diese anhaltende Gewalt einzutreten. Der 25. November prangert Gewalt gegen Frauen und Mädchen als eines der größten Hindernisse für echte Gleichberechtigung an und fordert gemeinsames Handeln.
Anlässlich dieses Aktionstages hat die Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung (ATG) der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn ein Interview mit Prof. Dr. Andrea Lehner Hartmann von der Universität Wien geführt. Als Professorin für Religionspädagogik und Katechetik forscht sie seit fast 30 Jahren unter anderem zum Thema Gewalt in Familie (und Schule) und setzt sich als aktuelle Dekanin für ein diskriminierungs- und gewaltfreies Miteinander und Gleichberechtigung an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien ein.


ATG:
Seit 30 Jahren gibt es den Internationalen Tag zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. In etwa so lange forschen auch Sie bereits an dem Thema. Warum ist es Ihrer Meinung nach heute noch genauso elementar (wie Ende der 90er Jahre), sich mit diesem Thema zu befassen?

Lehner-Hartmann:
Wenn man den Verlauf der letzten Jahrzehnte überblickt, dann hat sich das Bewusstsein als auch die rechtliche Situation in den einzelnen Ländern stark verändert, d.h. es gibt eine größere Aufmerksamkeit diesen Vorkommnissen gegenüber. Dazu gehören Informationskampagnen, rechtliche Maßnahmen, Kriterienkataloge für die mediale Berichterstattung, Schulungen von Polizist:innen u.v.m. Gleichzeitig zeigen uns die Zahlen der Femizide, die letztendlich nur die Spitze des Eisbergs darstellen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor ein virulentes Problem darstellen. Verunsichernde gesellschaftliche Entwicklungen, wie die Pandemie sowie die politischen Entwicklungen auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent zeigen, wie labil das Ganze ist und dass Mentalitätsänderungen weiter kontinuierlich vorangetrieben werden müssen. 

ATG:
Sie beschäftigen sich im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeit mit Gewalt gegen Frauen und Femiziden. Wie erklären Sie die fortwährende Präsenz dieses Problems in unserer Gesellschaft und welche spezifischen Lösungsansätze sehen Sie aus theologischer und pädagogischer Sicht?

Lehner-Hartmann:
Gewaltvorkommen gegenüber Frauen und Kinder haben ganz stark mit einem hierarchischen Geschlechter- und Generationenverhältnis zu tun. Überall dort, wo sich Schieflagen ergeben, sehen wir gewaltförmige Auswirkungen. Traditionelle Männlichkeitsvorstellungen, wie auch Orientierungen an strengen Disziplinierungsmaßnahmen, begünstigen in letzter Folge auch Gewalt, um beanspruchte Dominanzen durchzusetzen. Politische Entwicklungen, wie wir sie derzeit in Europa und Amerika beobachten können, befördern dies zusätzlich. Wenn Personen (vorrangig Männer) politisch aktiv sein können, obwohl sie Straftaten begangen haben, ein misogynes Frauenbild vermitteln, mehr oder weniger direkt zu Gewalt aufrufen und traditionelle Geschlechterrollen befördern, dann signalisiert dies eine Legitimation von traditionellen, hierarchisierenden Männlichkeitsvorstellungen, die sich zur Durchsetzung ihrer Ziele auch der Gewalt bedienen dürfen.

Pädagogisch besehen erfordert dies eine vermehrte Orientierung an geschlechtergerechtem Unterrichten, das männliches Dominanzgehabe problematisiert, an einer ausgewogenen Verteilung von Care-Arbeiten aktiv mitwirkt und Gewaltvorkommnisse nicht übersieht, sondern intervenierend handelt.

Theologisch bedarf es der Revision traditioneller Ehe- und Familienvorstellungen sowie anderer theologischer Konzepte, die keinen Zweifel daran lassen, dass Gewalt ein Vergehen an den Geschöpfen Gottes darstellt. Dazu gehört auch, eine Trennung/Scheidung von Gewalttätern als gerechtfertigt anzusehen, wie dies die amerikanischen Bischöfe bereits in den 1990er Jahren in ihrem Schreiben „When I call for help“ klar ausgedrückt haben: „Violence and abuse, not divorce break up a marriage.“

ATG:
Sie befassen sich auch spezifisch mit Gewalt in Familien und Schulen. Welche Verantwortung haben hier Bildungsinstitutionen, insbesondere auch religiöse Einrichtungen, und welche Ansätze erscheinen geeignet, um Gewalt an Frauen und Mädchen vorzubeugen?

Lehner-Hartmann:
Bildungsinstitutionen (Schulen wie Erwachsenenbildungseinrichtungen) haben die Aufgabe, Aufklärung zu leisten, was als Gewalt anzusehen ist, damit Menschen, die Gewalt erleben oder ausüben, ihr Erleben und ihre Taten einordnen können. Denn viele Betroffene, die in einem Gewaltklima aufwachsen, erleben dies als „Normalität“. Um diese Aufgabe leisten zu können, benötigt es eine dementsprechende Haltung und Kompetenz bei den Lehrenden, die reflexiv anzueignen sind. Betroffene müssen erleben können, dass sie Gewalt nicht erleiden müssen bzw. dass es nicht geduldet wird, wenn sie Gewalt ausüben, weil hier jemand ist, der das aufmerksam wahrnimmt und interveniert, wenn es notwendig ist.  Damit einzelne Lehrpersonen so handeln können, bedarf es eines Übereinkommens, einer Strategie der ganzen Schule, damit nicht das Verhalten einer aufmerksamen Lehrperson durch das anderer konterkariert wird. Diese Strategie zu entwickeln ist Aufgabe der Leitungspersonen.  Zur präventiven Arbeit gehört ebenso, dass traditionelle Geschlechterrollen mit ihren stereotypen Vorstellungen von privat/öffentlich, rational/emotional, durchsetzungsfähig/fürsorgend, konkurrenzorientiert/harmoniebedürftig hinterfragt werden und Schüler:innen ermuntert werden, diese Zuschreibungen zu durchbrechen und lernen, Egalität zu leben. Egalitäre Geschlechterverhältnisse sind das wirksamste Präservativ gegen Gewalt.

ATG:
Sie haben als Dekanin der KTF der Universität Wien die Kampagne schau hin! entwickelt, um eine respektvolle, diskriminierungsbewusste Studien- und Arbeitsatmosphäre zwischen Studierenden, Lehrenden und nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen zu schaffen. Warum brauchen wir heute (noch) solche Kampagnen? Welche konkreten Maßnahmen würden Sie sich von Seiten der Universitäten, Arbeitgeber:innen und im Kontext Schule wünschen, die Sie aktuell noch zu schwach ausgeprägt sehen?

Lehner-Hartmann:
Sexistische, rassistische, antisemitische, ableistische Äußerungen und Übergriffe gehören leider nach wie vor zum Alltag in Organisationen. Es bedarf daher einer klaren Strategie („code of conduct“), die eine klare Positionierung der Organisation im Umgang mit sexistischen, rassistischen und anderen diskriminierenden Äußerungen zum Ausdruck bringt. Nachdem rechtspolitische Entwicklungen mit ihrer Rede von Genderwahn oder dem Agieren gegen Wokeness auffallen, wird damit ein Bild übertriebener Verbote vermittelt („das wird man doch noch sagen/machen dürfen“), gegen das man sich wehren müsse und das Betroffenen Überempfindlichkeit attestiert. Damit ist aber der Boden bereitet, dass diskriminierende, schädigende Verhaltensweisen nicht früh genug wahrgenommen werden und „Opfer“ nicht nur allein gelassen, sondern vielfach auch noch verantwortlich gemacht werden für das, was ihnen widerfährt. Dagegen müssen Organisationen mit klaren Botschaften, klaren Zuständigkeiten (wer hat wie zu handeln?) und auch mit klaren Sanktionen bei Verstößen gegen den „code of conduct“ öffentlich sichtbar werden. Jene, die diskriminiert werden, dürfen nicht allein gelassen werden. Hier können Machtpositionen gezielt und produktiv für ein angstfreieres Zusammenleben eingesetzt werden.

ATG:
Viele religiöse Traditionen werden dahingehend kritisiert, dass sie patriarchale Strukturen zementieren und so Gewalt an Frauen indirekt begünstigen. Wie sehen Sie dieses Spannungsverhältnis und inwiefern gibt es aus theologischer Sicht Ansätze, die im Kontext geschlechtsspezifischer Gewalt präventive Wirkung entfalten können?

Lehner-Hartmann:
Religiöse Quellen und Traditionen beinhalten beides: menschenfeindliche wie menschenfreundliche Texte und Strömungen, man denke hier an die Erzählung der Vergewaltigung von Tamar durch ihren Bruder Amnon, aber auch an die Texte, die Frauen und Kinder ins Zentrum des heilvollen Handeln Gottes stellen. Religiöse Texte sowie auch religiöse Traditionen sind aus den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen heraus neu zu lesen, zu interpretieren und zu gestalten. Biblische Geschichten, in denen von Gewalterfahrungen („texts of terror“) berichtet wird, beziehen zwar nach heutigem Verständnis nicht immer eindeutig Stellung gegen Gewalt, zugute halten kann man ihnen aber, dass diese Erfahrungen nicht verschwiegen werden. Sie fordern als sperrige Texte immer wieder neu zu Reflexionen heraus.

Dies heißt für das konkrete theologische Handeln, sich mit diesen Texten aktiv auseinanderzusetzen und vor dem Hintergrund neuester Erkenntnisse aus der Gewaltforschung, die über Dynamiken und Folgen von Erfahrungen Auskunft gibt, (neu) zu interpretieren, sodass Betroffene (Täter wie Opfer) erfahren können, dass das Erleiden von Gewalt sowie das Ausüben von Gewalt theologisch nicht sanktioniert werden kann. Dazu gehört auch das Reflektieren von schuldhaftem Verhalten von religiösen (kirchlichen) Institutionen und pastoralem Handeln sowie das Durchforsten theologischer Konzepte zu Sünde, Vergebung, Versöhnung, Ehe, Familie etc. Da sich in ihnen oftmals patriarchale Sichtweisen spiegeln, müssen Reformulierungen vorgenommen werden, die Auswirkungen für Betroffene konsequent mitbedenken.

ATG:
Welche Herausforderungen sehen Sie, wenn gendergerechte Bildung in religiöse Zusammenhänge integriert werden soll?

Lehner-Hartmann:
Es lässt sich in religiösen Kontexten ähnlich wie in den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen über Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg eine zunehmend starke Bewegung gegen Genderthemen beobachten. Dennoch führt an einer gendergerechten Ausrichtung in religiösen Bildungskontexten kein Weg vorbei. Ich wage sogar zu behaupten, dass im Umgang mit der Geschlechterfrage eine der zentralen Zukunftsfragen zu sehen ist, die darüber entscheidet, ob religiöse Gemeinschaften ernst genommen werden – oder eben nicht. Daran wird auch abgelesen werden, ob sie einen für das Zusammenleben in liberalen Demokratien wichtigen Beitrag leisten können. Damit verschränkt zu sehen sind auch noch andere Phänomene, wie Rassismus, Antisemitismus, Ageismus, Ableismus, etc.

ATG:
Zum Schluss vielleicht eine persönlichere Frage: Was treibt Sie (weiterhin) an, sich in Ihrer Arbeit mit diesem Thema zu beschäftigen?

Lehner-Hartmann:
Auch wenn es emotional nicht immer einfach ist, sich mit Gewaltfragen auseinanderzusetzen, ist es für mich als Religionspädagogin eine Frage der Verantwortung und des Ernstnehmens der Schwächeren in der Gesellschaft und eine Frage der Gerechtigkeit, die biblisch gesprochen allen „Kindern Gottes“ zu widerfahren hat. Zukünftigen Religionslehrer:innen oder in der Pastoral Tätigen möchte ich damit Sensibilität in der Wahrnehmung von Gewaltphänomenen vermitteln, aber gleichzeitig auch Mut machen, weil sie hier einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung von Menschen leisten können. Als Dekanin fühle ich mich (mit)verantwortlich für die Atmosphäre, in der Studierende und Lehrende an der Fakultät sich begegnen. Dies soll möglichst ohne Diskriminierungen und Gewalterfahrungen erfolgen und gleichzeitig den Blick für Ungerechtigkeiten in dieser Welt schärfen lernen. Dazu bedarf es aber einer gezielten Thematisierung in theologischen und religionswissenschaftlichen Kontexten, klarer Botschaften, die wir über die Kampagne versuchen und einer gegenseitigen Aufmerksamkeit aller Beteiligten.  

ATG:
Gibt es Literatur, die Sie Interessierten für einen Einstieg in die Thematik besonders empfehlen würden?

Lehner-Hartmann:
Dies hängt sehr von der Zielgruppe ab. Für den religionspädagogischen Kontext:

Heek, Andreas / Jax, Aurica / Müllner, Ilse / Reese-Schnitker, Annegret (Hg.), Zur Sprache bringen. Biblische Texte und sexualisierte Gewalt in Pastoral und Schule, Ostfildern 2024.

Für ein breiteres theologisch und kirchlich interessiertes Publikum:

Prüller-Jagenteufel, Gunter / Treitler, Wolfgang (Hg.), Verbrechen und Verantwortung. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Erfahrungen, Freiburg 2021.

Wer sich darüber hinaus über Geschlechterfragen in unterschiedlichen Religionen informieren will, wo auch Gewaltfragen nicht ausgeklammert werden:

Heller, Birgit / Franke, Edith (Hg.), Religion und Geschlecht, Berlin 2024.


Zur Person:

Andrea Lehner-Hartmann ist Dekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Wien und hat die Professur für Religionspädagogik und Katechetik am Institut für Praktische Theologie inne. Außerdem ist sie stellvertretende Sprecherin der interdisziplinären Forschungsplattform GAIN (Gender: Ambivalent In_Visibilities). Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Themen wie Gewalt in Familie und Schule, religiöses Lernen und religiöse Bildung in einer pluralen Gesellschaft sowie die Rolle von Gender in (religiösen) Bildungsprozessen und -institutionen.


Weiterführende Links:

Anlaufstellen für Betroffene:

Andrea Lehner-Hartmann
Andrea Lehner-Hartmann © Lehner-Hartmann / privat
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