Universität Bonn

Katholisch-Theologische Fakultät

Masterclass "Textgeschichte des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel"

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© K. M. Schäfers
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© K. M. Schäfers
       

Was ist „der“ Text der Tora? Dass diese Frage gar nicht selbstverständlich zu beantworten ist, zeigt ein Beispiel: Nach dem Standardtext der Hebräischen Bibel, dem Masoretischen Text (MT), heißt es in Gen 2,2: „Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag“. Blickt man in die die Septuaginta (LXX), die griechische Übersetzung aus dem 3. Jh. v. u. Z., oder den Pentateuch der Samaritanischen Gemeinde (SP) findet sich eine abweichende Fas­sung: „Am sechsten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag“. Der Unterschied hat theo­logische Implikationen: Worin besteht die Vollendung des Werkes? Welcher Charakter kommt dem Ruhetag zu?

Im Rahmen des Blockseminars "Masterclass Textgeschichte" mit drei Professo­ren der Hebräischen Universität Jerusalem, organisiert von Dr. Kirsten Schäfers, setzten wir uns in­tensiv mit der Ausgangsfrage nach dem Text der Tora auseinander. Die Professoren Emanuel Tov, Michael Segal und Stefan Schorch gehören zu den profiliertesten Wissenschaftlern der Textge­schichte, Qumranforschung und des Samaritanischen Pentateuch. In drei Sitzungen gab uns jeder von ihnen seine eigene Perspektive auf die Frage nach „dem“ Text der Tora.

Emanuel Tov, u.a. verantwortlicher Herausgeber der Schriftrollen vom Toten Meer, arbeitete mit uns die unterschiedlichen Charakteristika verschiede­ner Schriftrollen heraus: Neben Schriftrollen, die MT oder SP nahestehen, betrachteten wir zwei weitere relevante Fälle aus dem späten 2. bis 1. Jh. v. Chr.: Die Rolle 4QDeutq enthält (gemeinsam mit einem noch länge­ren LXX-Text) im Moselied Dtn 32,43 u.a. die Lesart ‚Götter(-söhne)‘. MT ist demgegenüber deutlich kürzer und zudem schwer verständlich. Im Ausdruck ‘Göttersöhne’, den die griechische Überset­zung mit ‘Engeln’ übersetzt, klingt ein polytheistisches Setting an. Der kürzere Text von MT ist hier also plausibel durch theologische Zensur zu erklären! Der zweite Fall betraf mit 4QTest (4Q175) ein Exzerpt-Manuskript mit vier Textpassagen, die so kombiniert wurden, dass sie auf eine oder mehrere messianische Personen hindeuten. Das Beispiel zeigt, wie mit Text in der späten Zeit des Zweiten Tempels umgegangen wurde: Die Passagen sind aus Texttraditionen mit verschiedenen Charakteristika zitiert – MT-nah, SP-nah, eigenständig, sog. „apokryphe“ Texte – und sind alle in der Qumran-typischen Orthografie geschrieben. Dies verweist auf eine textliche Vielfalt, die für den Schreiber des Manuskripts offenbar kein Problem darstellte. Den Ertrag der Übung fasste Tov so zusammen: "Der biblische Text ist zunächst eine abs­trakte Instanz. Vielleicht hat der biblische Text nie existiert, aber wenn er existiert hat, kann er in allen Texttraditionen gefunden werden." Anschließend stellte er seine genetische Herleitung der Traditionen aus einem direkten Vorläufer des MT vor. 

Michael Segal, der u.a. zu Interpretationstechniken in der Zeit des Zweiten Tempels forscht, betrachtete mit uns das Phänomen der ‘textual dynamics’: Wie entsteht und ändert sich Text, indem er mit anderen Texten ins Gespräch gebracht wird? Anhand sogenannter Reworked-Pentateuch-Texte (RP) – Rollen, die erkennbar Pentateuchtexte enthalten, aber starke Bearbeitungen aufweisen – führte er uns in Interpretationstechniken im 1. Jh. v. Chr. ein. Er zeig­te auf, dass die RP-Texte teilweise eine Vorlage mit dem (nur in der äthiopischen Kirche kanonisch gewordenen) Jubiläenbuch gemeinsam haben, teilweise auch mit dem Samaritanischen Pentateuch. Die RP-Texte wurden selbst wieder aufgenommen und durch andere RP-Texte weitergeschrieben, mit anderen Texten kombiniert oder überarbeitet. Biblischer Text zeigt sich hier als Teil von Interpretationsdynamiken, in denen verschiedene Geschichten und Gesetze assoziativ miteinander verknüpft werden. Diese fortlaufende Interpretation sieht Se­gal als ein Grundcharakteristikum: Das, was abgeschrieben, genutzt und interpretiert wird, ist au­toritativ. Und daher ist es auch (biblischer) Text. 

Mit Stefan Schorch, Herausgeber einer neuen kri­tischen Edition des Samaritanischen Pentateuch und einer der besten Kenner der samaritanischen Texttradition, untersuchten wir einige Besonderheiten der samaritanischen Texttradition. Anhand der materialen Gestaltung verschiedener Manuskripte konnten wir zunächst das Selbstverständnis dieser Texttradition herausarbeiten: Die Manuskripte werden durch die Anordnung der Buchstaben kalligraphisch gestaltet. Dabei können die Buchstaben zu Bildelementen zusammengefügt werden oder so angeordnet werden, dass sich auch auf der vertikalen Achse etwas lesen lässt. Nach Schorch wird die Tora so als ein in sich geschlossener Text behandelt: eine perfekte Tora, die durchs Lesen erkannt werden muss. Anschließend betrachteten wir einige textliche Unterschiede zwischen dem MT und dem SP. Im Hinblick auf die für das samaritanische Selbstverständnis zentrale Aufforderung, einen Altar auf dem Berg Garizim bei Nablus zu bauen, wo im MT der gegenüberliegende Berg Ebal genannt wird, konnten wir mit einem Blick auf eine alt-lateinische Lesart feststellen, dass SP hier eine ältere Lesart bewahrt. Der Garizim wurde nach der Zerstörung des Heiligtums durch die Hasmonäer im Zuge einer Fokussierung auf Jerusalem in MT durch den „Berg des Fluches“, den Ebal, ersetzt. Es ist also keineswegs so, dass der MT der ‘reine’ und der SP ein ‘ideologischer’ ist: Auch MT entsteht durch Aushandlung von Identitätsfragen und Abgrenzung.

In der Zu­sammenschau auf die drei Sitzungen ergibt sich also ein vielfältiges Bild auf die Ausgangsfrage. „Der“ Text der Tora existiert nicht „an sich“ als solcher, sondern in vielfältigen Fassungen. Diese Vielfalt kenn­zeichnet besonders die späte Zeit des Zweiten Tempels, in der Text durch Abschreiben und Inter­pretation immer neu hervorgebracht wurde. Gleichzeitig führte das Seminar so auch in aktuelle Streitfragen der Forschung ein: Während Tovs Sitzung darauf ausgerichtet war, die Texttraditionen untereinander zu ordnen und auf eine genetische Rekon­struktion aus einem Text zurückzuführen, klang bei Segal und Schorch eine entgegengesetzte Sicht an: „Der“ Bibeltext als solcher existierte nicht, und MT als ein einziger, innerhalb der Tradition relativ variantenloser Text sei das spätere Ergebnis der Eindämmung einer ursprünglich größeren textlichen Vielfalt. Viel­leicht existierte „der“ Text „an sich“ also nie – zumindest nicht als feste, eineindeutige Größe. Vor allem ist biblischer Text in seiner Vielfalt stets Interpretationsdynamiken unterworfen, die Sinn geben, verknüpfen oder zen­sieren. Mit einem Verständnis für diese Dynamiken macht die Theologie darauf aufmerksam, wie vielfältig biblische Texte gelesen werden können und dass die Texte immer schon Teil von gelehr­ten und theologischen Auseinandersetzungen waren.

Biographische Informationen zu den Gastprofessoren

Ph.D 2009, Jerusalem, ist Associate Professor am Department of Bible, HUJI, und forscht zur Textgeschichte und Literargeschichte post-biblischer Texttraditionen, v.a. in Qumran, und interessiert sich besonders für prophetische und poetische Literatur (u.a. Exodus, Jesaja, Jeremia, Pesher Habakuk, Songs of the Sabbath Sacrifice). Er ist u.a. Direktor des „Orion Center for the Study of the Dead Sea Scrolls and Associated Literature“ und Mitherausgeber der Kommentarreihe Mikra LeYisrael (Bible for Israel).

Link zu seiner Homepage: https://noammizrahi.huji.ac.il/#

Dr. theol. 1998, Leipzig; Habil. 2003, Bielefeld, ist Professor am Department of Bible, HUJI, und forscht zur Textgeschichte der Hebräischen Bibel und der Septuaginta. Er ist der weltweit profilierteste Kenner der Samaritanischen Texttradition und leitet u.a. als Herausgeber das umfangreiche Projekt zur Neu-Edition des Samaritanischen Pentateuch.

Link zu seiner Homepage: https://cris.huji.ac.il/en/persons/stefan-schorch/publications/
http://www.schorch.at/

Ph.D. 2004, Jerusalem, ist The Father Takeji Otsuki Professor of Biblical Studies am Department of Bible, HUJI. Er forscht zur den Texttraditionen der hebräischen Bibel und ihren antiken Versionen, zur Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels sowie zur frühen Auslegungsgeschichte der biblischen Traditionen. Er ist u.a. Herausgeber der Hebrew University Bible, die den Text des Codex Aleppo ediert.

Link zu seiner Homepage: https://michaelsegal.huji.ac.il/

Ph.D. 1973, Jerusalem, J. L. Magnes Professor of Bible Emeritus am Department of Bible, HUJI, ist einer der renommiertesten Textgeschichtler und Qumranforscher weltweit. Er war Leiter des „Dead Sea Scrolls Publication Project“ und Herausgeber der Qumrantexte in der Edition „Discoveries in the Judaean Desert (DJD)“ (1992-2010) und hat u.a. als Autor der Handbücher „Textual Criticism of the Hebrew Bible“ und „The Text-Critical Use of the Septuagint in Biblical Research“ sowie der „Dead Sea Scrolls Electronic Library (verfügbar in Bonn über VPN)” Generationen von Studierenden und Forschenden geprägt.

Link zu seiner Homepage: http://www.emanueltov.info/

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